- Milton und das Epos: Christliches Weltbild und säkulare Zeiterfahrung
- Milton und das Epos: Christliches Weltbild und säkulare ZeiterfahrungDas Epos »Das Verlorene Paradies« (1667/74) des späten John Milton war die monumentalste Leistung der englischen Dichtung des 17. Jahrhunderts. Die ihm in der Folgezeit - wenn auch nie ganz ungeteilt - gezollte Bewunderung bestätigte seinen Rang. Über hundert Ausgaben erschienen allein im 18. Jahrhundert. Übersetzungen in fast alle europäischen Sprachen sorgten für internationale Resonanz. Bis ins 19. Jahrhundert ging Inspiration von dem Werk aus; zur intellektuellen Auseinandersetzung fordert es bis heute heraus.Ohnedies galten die großen Versepen der Weltliteratur und deren heroisierende, imaginativ aufgeschwellte und aktualisierte Gestaltung akzeptierter Mythen als die höchste Dichtungsart. Indem Milton den biblischen Weltschöpfungsmythus im Sinne heroischer Epen gestaltet, kann er für sein Unternehmen beanspruchen, dass es »nach Höherm strebt als Vers und Prosa je gewagt«. Müßig scheint die oft diskutierte Frage, ob »Das verlorene Paradies« als das Relikt der schon überholten Zeit des Renaissance-Humanismus mit seinen mittelalterlichen Wurzeln einzuschätzen sei oder aber als das Monument einer neuen Klassizität. Eher lässt sich die Nähe zur Bild- und Baukunst des Barock konstatieren, die ihrerseits ein Ausdruck der Infragestellung des hergebrachten geozentrischen Weltbilds war. Überhaupt war das 17. Jahrhundert eine Periode nicht nur des geistigen Umdenkens, der Wende von humanistischen Idealen zur empirischen Erkenntnis, sondern auch der religiösen und politischen Spannungen. In England sah am Anfang des Jahrhunderts, als Milton geboren wurde, der Stuart-König Jakob I. seine Herrschaft noch als durch das göttliche Gesetz legitimiert. Dies forderte die wachsende Opposition der Puritaner und Parlamentarier heraus, die sich unter Berufung auf das allgemeine und natürliche Gesetz gegen die absolute Macht der Krone ebenso wandte wie gegen die Hierarchien der anglikanischen Staatskirche. Unter Jakobs Nachfolger Karl I. führte der Konflikt in Bürgerkriege und 1649 zur Aburteilung und Hinrichtung des Königs. Von Oliver Cromwell, dem Sieger, wurde die Republik ausgerufen - das Commonwealth, das freilich nur in der Theorie ein demokratischer Freistaat war. Nach dessen Scheitern ließ die Restauration der Monarchie (1660) neue Parteibildungen und Konflikte entstehen, aus denen ein Jahrzehnt nach Miltons Tod im Gefolge der unblutigen Glorreichen Revolution (1688) die konstitutionelle Monarchie als Staatsform hervorging.Die politischen Ereignisse prägten Miltons Lebensweg. Das Studium in Cambridge, breite Lektüre und die klassische Bildungsreise bereiteten ihn auf die selbst erwählte Mission als Dichter vor. In seinen Gedichten aus dieser Zeit zeichnet sich bereits eine vielseitige Gestaltungskraft ab. In Italien erreichten ihn Nachrichten von den beginnenden britischen Unruhen und bewogen ihn zur vorzeitigen Rückkehr nach London. Dort griff er bald mit Streitschriften in die öffentlichen Kontroversen ein und unterstützte im Namen der Freiheit die antiroyalistischen und gegen die anglikanische Kirche gerichteten Positionen der Puritaner. Mehrere Traktate galten dem Kampf gegen das Kirchenregiment durch Bischöfe. Er plädierte für Erziehungsreform, für Pressefreiheit (»Areopagitica«, 1644) und für eine Liberalisierung der Ehescheidung. Gegen Widerstände suchte er das revolutionäre Ergebnis der Bürgerkriege zu rechtfertigen. Denn die Exekution Karls I. ließ im Volk royalistische Sympathien aufleben und den König als Märtyrer erscheinen, während sie im Ausland Bestürzung hervorrief. Dazu trug das gleich nach der Hinrichtung erschienene, vorgeblich vom König selbst im Kerker verfasste Buch »Eikon Basilike« bei, auf das Milton, nun im Dienst der Cromwell-Regierung, mit der Gegenschrift »Eikonoklastes« (1649) antwortete, indem er die Unwürdigkeit des Tyrannen dartat. Und er fuhr fort, die freiheitliche Sache des Commonwealth zu verteidigen, auch dann noch, als dessen Niedergang abzusehen war. Mit der Restauration (1660) war sein politisches Wirken am Ende. Als Ideologe der Commonwealth-Politik gehörte er nun mit den »Königsmördern« zu den Hauptbelasteten und gelangte vorübergehend in Haft; nur die Fürsprache einflussreicher Freunde bewahrte ihn vor dem Todesurteil. Zudem war er seit 1652 erblindet, was seinen Gegnern als gerechte Gottesstrafe galt. Er selbst freilich konnte sich mit dem blinden Homer vergleichen, dem Urbild des epischen Dichters. In der Zurückgezogenheit nahm er sein literarisches Schaffen wieder auf und verwirklichte den lang gehegten Plan für das große Epos.Nach der Breite der epischen Form verlangte der gewichtige Gegenstand von »Das verlorene Paradies«: die Folgen der Ursünde, die Theodizee-Frage nach dem Sinn des Bösen in der von Gott gewollten Heilsordnung. »Die Wege Gottes für den Menschen zu rechtfertigen«, schicken die zehn Bücher des Werks sich an, die später auf zwölf vermehrt wurden. Von vornherein werden Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies mit der Auflehnung der Engel um Luzifer und deren Höllensturz verbunden. In der Hölle sammelt Luzifer, nun als Satan, gleich einem Feldherrn seine Heere (Buch I-II), lässt das mit heidnischer Antike assoziierte Pandämonium errichten, sucht nach Wegen zur Wiedergewinnung des Himmels und begibt sich auf die Reise durch das Chaos, um die neuerschaffene Erde auszuspähen. Die Heroisierung Satans ist in der Tat so faszinierend, dass er später, im Umfeld von Romantik und Französischer Revolution, als positiver, eben revolutionärer Held missverstanden werden konnte, besonders in Dichtungen und Bildern von William Blake. Aber Milton selbst stellt dem in den folgenden Büchern die Himmelsszenen gegenüber, die Ewigkeit Gottes und auch die Erklärung des göttlichen Plans durch den Erzengel Gabriel, wonach die Erschaffung der Erde als Emanation des göttlichen Willens den Menschen Willensfreiheit und Selbstverantwortung überträgt. Und der überheblichen Leidenschaft Satans steht, nicht minder heldenhaft, die ordnende Vernunft des präexistenten Gottessohns entgegen. Für die Ordnung des Kosmos ist das ptolemäische, geozentrische Weltbild die poetische Metapher, wiewohl die kopernikanische Wende der neuen Wissenschaft anklingt. Das Paradies ist die irdische Entsprechung jener Ordnung. Bezeichnenderweise betreiben Adam und Eva, in Eintracht mit Gott und miteinander, die Gärtnerarbeit des Bändigens der Natur, bevor sie dem (in Buch IX geschilderten) Versuchungsmanöver Satans anheim fallen und die von Gott gesetzten Grenzen überschreiten. Darob wird Harmonie zur Verwirrung, eheliche Eintracht zu beschämender Sexualität. Der Fall verändert die Welt; dem erfolgreichen Satan eilen Sünde und Tod entgegen; Erzengel Michael verkündet die Verbannung aus dem Paradies. Die Schlussbücher XI und XII eröffnen den Blick in die leidvolle Zukunft der Weltgeschichte, die den Einzelnen und den Völkern eine Aufgabe stellt und auch die Möglichkeit der Wiedergewinnung des Paradieses birgt. Darauf zielt auch Miltons späteres und kürzeres Epos »Das wiedergewonnene Paradies« ab, ein Gegenstück, das vom Widerstehen der Versuchung durch Christus in der Wüste kündet.Die künstlerische Kraft der Miltonschen Epen beruht zum einen auf einer ausgewogenen Struktur, die ein Netz der Sinnbezüge und Verweisungen herstellt. Und sie beruht zum anderen auf der sprachlichen Formung. Der Rückgriff auf den Blankvers des Dramas der Shakespearezeit kommt einer Befreiung von den Reim- und Strophenzwängen der Renaissanceepik gleich und erlaubt Miltons komplexe und kühn überbordende Satzperioden. Die Fülle der Sprachbilder, der epischen Gleichnisse, der mythologischen und geschichtlichen Anspielungen, die das gesamte Kulturerbe einbezieht, hat Parallelen in den ikonographischen Traditionen der Malerei; auch hat sie ihrerseits zu vielen bildkünstlerischen Umsetzungen angeregt.Prof. Dr. Werner HabichtEnglische Literaturgeschichte, herausgegeben von Hans Ulrich Seeber. Stuttgart u. a. 21993.
Universal-Lexikon. 2012.